Wirtschaftswunderland

In Israel leben 8,5 Millionen Menschen, weniger als in Baden-Württemberg. Und dennoch hat dieses Land 92 Firmen an die US-Börse Nasdaq gebracht, mehr als jedes andere außer den USA und China (Deutschland hat acht). Nirgends werden so viele Tech-Firmen per Einwohner gegründet; seit dem gleichnamigen Buch von Dan Senor und Saul Singer gilt Israel als „Start-up-Nation“. IT-Riesen wie Apple, Cisco, Google, Intel, Microsoft und IBM unterhalten dort Forschungszentren. Und Politiker und Unternehmer aus der ganzen Welt pilgern hin, um die Frage zu ergründen: Ist der israelische Innovationsgeist so einmalig wie das Land? Oder das Ergebnis einiger geschickter Weichenstellungen – also reproduzierbar?

Oren Gershtein glaubt: Letzteres. „Mir ist nirgendwo anders ein Hightech-Ökosystem begegnet, das spontan und ohne staatliche Hilfe entstanden wäre.“ Der 47-Jährige war lange Vorstandsvorsitzender des israelischen Inkubators Van Leer Technology Ventures. Heute berät er Regierungen und Unternehmen dabei, Hightech-Zentren nach israelischem Vorbild aufzubauen. Die These, der Erfolg lasse sich wiederholen, ist also seine Geschäftsgrundlage. Doch er hat auch gute Argumente dafür.

Nirgendwo kommen Gründer so leicht an Geld

In einem typisch lauten und überfüllten Café in Tel Aviv klappt Gershtein seinen Laptop auf und öffnet eine Powerpoint-Präsentation. „Mitte der Achtzigerjahre lebte Israel von Landwirtschaft und traditioneller Industrie“, sagt er. „Als diese Industrie nach Asien abwanderte, begann die Regierung die erste öffentlich-private Partnerschaft, um technologieorientierte Firmen zu fördern: Für jeden privat investierten US-Dollar gab der Staat einen weiteren Dollar.“ Dann zerbrach 1991 die Sowjetunion, eine Million sowjetischer Juden zog nach Israel, darunter viele Ingenieure und Wissenschaftler – „eines der größten Geschenke, die der Staat je bekommen hat“. Die bestehenden Firmen konnten nicht auf einen Schlag so viele Menschen einstellen. Deshalb begann die Regierung ein Inkubatoren-Programm: Es sollte den Neuankömmlingen helfen, eigene Firmen zu gründen.

Dieses Programm hat sich im Laufe der Jahre zur treibenden Kraft des Start-up-Booms entwickelt. Wer in Israel einen Hightech-Inkubator gründen will, braucht eine Lizenz vom Büro des Chefwissenschaftlers, das dem Wirtschaftsministerium untersteht. Es gibt derzeit 24 solcher Inkubatoren. Für die jungen Firmen, die sie fördern, können sie öffentliches Startkapital beantragen. Der Inkubator muss nur 15 Prozent des notwendigen Geldes aufbringen, der Staat gibt ein Darlehen über die restlichen 85 Prozent, maximal 800 Millionen US-Dollar. Die müssen nur im Erfolgsfall zurückgezahlt werden. So können Inkubatoren sich Investitionen leisten, die andernfalls zu riskant wären.

Aus Sicht der Regierung klingt das irrsinnig: Scheitert das Start-up, zahlt der Steuerzahler; ist es erfolgreich, streichen private Investoren die Gewinne ein. Doch der Irrsinn hat Methode. Für jeden Dollar, den der Staat zwischen 1991 und 2013 in das Inkubatoren-Programm gesteckt hat, investierten Unternehmer fünf bis sechs Dollar. „Wäre der Staat Israel ein Risikokapitalfonds, er wäre erfolgreicher als jeder Fonds im Silicon Valley“, sagt Gershtein.

Der Staat mag den Start-up-Boom angestoßen haben. Groß gemacht hat ihn die freie Wirtschaft. Das gilt auch für Forschung und Entwicklung: Laut OECD fließen in diesen Sektor 4,1 Prozent des israelischen Bruttoinlandsprodukts, mehr als in jedem anderen Industrieland. 85 Prozent davon steuern Firmen bei, und fast die Hälfte kommt aus dem Ausland. Israels Innovationswunder wird zu großen Teilen fremdfinanziert.

Für den israelischen Erfindergeist werden oft romantische Erklärungen bemüht: eine Gesellschaft von Pionieren in einer feindlichen Region, vom ständigen Überlebenskampf zu Mut und Scharfsinn gezwungen. An all dem mag etwas dran sein. Nur: Ohne Geld wird aus keiner Idee ein Produkt. Und die Chance, Risikokapital zu bekommen, ist in Israel viel größer als in den USA, Frankreich oder Deutschland. 2015 wurden in dem kleinen Land mehr als eine Milliarde Dollar Risikokapital eingeworben – pro Einwohner ein Drittel mehr als in den USA und zehnmal so viel wie in Europa.

Einer der aktivsten Fonds ist Jerusalem Venture Partners (JVP), 1993 gegründet, 900 Millionen Dollar schwer, verantwortlich für 30 Exits. Man investiert in israelische und ausländische Firmen und unterhält einen Inkubator, um neue Firmen zu fördern. Eine davon heißt Rep’n Up. Sie verspricht, den Ruf von Menschen in sozialen Medien wie Facebook durch das Löschen verfänglicher Bilder und Äußerungen zu verbessern. Einer der zehn Mitarbeiter ist der 27-jährige Dvir Bach. Er sitzt in T-Shirt und Trekking-Sandalen im halb leeren Großraumbüro. „Wir treffen hier ständig wichtige Leute, können unsere Idee vorstellen und um Rat fragen“, sagt er. „Neulich habe ich sogar vor dem französischen Wirtschaftsminister gesprochen.“

Selbstverständlich hat nicht jede israelische Gründung Erfolg. Fast jede zweite Firma macht im Schnitt nach dreieinhalb Jahren dicht. Aber Versuch und Irrtum gelten hier als Teil des Spiels: Die Gründer scheitern und machen das nächste Unternehmen auf. Auch Bach hat sich vor anderthalb Jahren an einem Start-up versucht, nach zwei Monaten gab er auf – und begann kurz darauf bei Rep’n Up. Das Startkapital kommt von JVP und, dank des Inkubatoren-Programms, aus dem Wirtschaftsministerium.

JVP gründet auch eigene Firmen. „Wir treffen uns mit Professoren“, sagt Yonatan Machado, 31, Partner des Inkubatoren-Programms, mit makellosem US-Akzent, der seine französische Herkunft verbirgt, „verwandeln ihre Ideen in ein Produkt und stellen ein Team zusammen.“ Ohne das enge Zusammenspiel von Forschung und Industrie lässt sich das israelische Modell nicht verstehen.

Wer wissen will, ob man ein solches System aus dem Nichts aufbauen kann, sollte in die Wüstenstadt Be’er Scheva fahren.

Die Zukunft Israels liege in der Negev-Wüste, sagte einst David Ben-Gurion, erster Premierminister des Landes. Noch vor wenigen Jahren gab es keinen Anlass, das Zitat zu entstauben: Be’er Scheva, umgeben von ärmlichen Beduinendörfern, galt als reizlos. Heute schimmern nahe des Hauptbahnhofs zwei verglaste Gebäude bläulich in der Sonne: Vorboten des Gav Yam Negev Advanced Technology Parks, der einmal 20 Gebäude umfassen soll. „Be’er Scheva wird zu einem der wichtigsten Orte für Cyber-Sicherheit in der westlichen Welt“, verkündete Israels Premierminister Benjamin Netanjahu 2014.

Verantwortlich für das Projekt sind die Ben-Gurion-Universität, die Kommunalregierung sowie zwei Baufirmen. Umgerechnet 460 Millionen Euro sollen hier in den kommenden Jahren in nächster Nähe zur Ben-Gurion-Universität investiert werden. Der Staat fördert das Projekt nach Kräften: Das Nationale Cyber-Büro, die Behörde zur Abwehr von Cyber-Attacken, soll nach Be’er Scheva verlegt werden, ebenso die Hightech-Einheiten der Armee. Zudem lockt man ausländische Firmen mit Steuererleichterungen. „Eine Firma, die sich hier ansiedelt, spart nicht nur Geld“, sagt Roy Zwebner, 36, der Generaldirektor des Parks. „Sie profitiert auch vom Know-how der Studenten und der Veteranen der Hightech-Einheiten.“

40 Firmen sind in die beiden fertigen Gebäude eingezogen, darunter Lockheed Martin, IBM und Oracle. Eine deutsche Firma ist schon seit elf Jahren vor Ort: Die Deutsche Telekom unterhält eine Forschungseinrichtung in der Ben-Gurion-Universität. Studenten und Dozenten forschen hier zum Thema Cyber-Sicherheit. Der Informatikprofessor Yuval Elovici ist Direktor der Einrichtung. „Es hat sich hier viel Know-how konzentriert, und deshalb bringt die Universität exzellente Start-ups hervor. Wir bieten den Studenten die besten Bedingungen – selbst kostenlosen Kaffee.“ Der 50-Jährige lacht und sagt: „Das gibt es nicht mal in Deutschland.“

Der militärisch-industrielle Komplex funktioniert

Während in Deutschland große Nähe zwischen Hochschulen und Industrie oft Misstrauen weckt, ist sie in Israel ausdrücklich erwünscht: Jede Forschungsuniversität unterhält eine eigene Firma, um geistiges Eigentum zu verwerten. Diese Firmen sind für 73 Prozent der jährlichen Patentanträge in Israel verantwortlich.

Und dann ist da noch das Militär: In Be’er Scheva soll auch ein Armee-Campus entstehen, für die Rekruten der Hightech-Einheiten. Diese Soldaten, besonders der Eliteverband 8200, haben viele erfolgreiche Entrepreneure hervorgebracht, darunter die Gründer von CheckPoint, Palo Alto Networks und Waze. »Business Insider« nannte 8200 „die beste Hightech-Schule der Welt“.

Nir Lempert, 56, diente 23 Jahre in der Einheit, zuletzt als Oberst. Heute ist er Vorsitzender der 8200-Alumni-Organisation, außerdem Vorstandsvorsitzender von C. Mer Industries, einer Holding. „8200 ist quasi die israelische NSA“, sagt Lempert. „Mit einem wichtigen Unterschied: Sie ist keine zivile, sondern eine militärische Organisation. Und weil in Israel Wehrpflicht besteht, kann die Einheit jedes Jahr die besten und motiviertesten jungen Leute aussuchen. Die Soldaten wissen, dass ihre Mission wichtig für die Sicherheit ihres Landes ist – ,unmöglich‘, das gibt es nicht.“ Es sei dieses Training, dazu der Umgang mit modernster Ausrüstung, der die 8200-Absolventen auch außerhalb der Armee so erfolgreich mache. Die enge Verschränkung von militärischer und ziviler Welt, für deutsche Gemüter ungewohnt bis befremdlich, wird von den meisten Israelis als selbstverständlicher Fakt des Alltags gesehen – schließlich dient so gut wie jeder jüdische Israeli, Frauen und Männer, Linke und Rechte, in der Armee.

Der mehrjährige Wehrdienst gilt vielen Experten als entscheidend für den israelischen Gründergeist; die Autoren Senor und Singer sprechen in ihrem Buch vom „Battlefield Entrepreneur“. Mentalität, Kultur, kollektive Psyche: Von allen Faktoren, die zur Ergründung des Innovationswunders herangezogen werden, sind diese am schwersten zu greifen – und zu imitieren. Osnat Lautman, 40 Jahre alt, hat ein Buch über den israelischen Geschäftssinn geschrieben. Sie berät ausländische Firmen, die im Land aktiv werden wollen.

An einem sonnigen Morgen sitzt sie in einem Café im wohlhabenden Norden Tel Avivs. „Deutsche haben für alles eine Prozedur“, sagt sie. „Man denkt über ein Projekt nach, entwirft einen Plan und führt ihn aus. Israelis erstellen nur einen groben Plan und ändern ihn dann ständig, sie improvisieren lieber.“ Und dann ist da noch etwas. „Hören Sie.“ Sie grinst und nickt zur Frau am Nachbartisch hinüber. Die spricht energisch in ihr Smartphone. „Israelis sind laute Menschen“, sagt Lautman. „In einem Meeting in Deutschland hört man zu und schreibt mit. Israelis schreien durcheinander, streiten und kritisieren. Das ist anstrengend, aber so kommen gute Ideen auf den Tisch.“ Der Schriftsteller Amos Oz hat die jüdisch-israelische Gesellschaft so beschrieben: „Eine anarchische Zivilisation, eine Kultur des Zweifels und des Streits.“

Ein kleines Land, das gegen alle Widerstände überlebt und dann auch noch die Welt bereichert mit seinem Erfindergeist. Es ist eine schöne Geschichte. Es ist leicht, sich ein bisschen in sie zu verlieben Und vielleicht liegt gerade darin die Gefahr. „Wenn wir uns ständig sagen: Wir sind so großartig, so kreativ, dann wird das irgendwann zu einer Selbstverständlichkeit“, sagt Yonatan Machado vom JVP-Fonds. „Wir müssen uns daran erinnern, dass Erfolg kein Privileg ist, sondern eine Notwendigkeit, um zu überleben. Erfolg entsteht aus Hunger.“

Wird die nachfolgende Generation noch hungrig sein? Und fähig? Bei einem globalen OECD-Bildungsvergleich zwischen 76 Staaten landete Israel kürzlich auf Platz 39. „In der Bildung liegt das größte Risiko“, sagt der Berater Oren Gershtein. „Eine moderne Maschine kann man in ein paar Sekunden kaufen. Aber das menschliche Äquivalent auszubilden dauert 25 bis 30 Jahre.“

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Geopolitik: Israel grenzt an Syrien, den instabilen Libanon, und der ewige Konflikt mit den Palästinensern ist ungelöst. Wenn die vergangenen Jahrzehnte eine Schlussfolgerung erlauben, dann die, dass der Nahe Osten unberechenbar ist. Eine größere Krise könnte das Hightech-Modell stören. „Investoren legen ihr Geld lieber in ruhigen Orten an“, sagt Gershtein.

Und dann ist da noch die Frage der Reife. In seinem „Innovationsreport 2014“ beklagt das israelische Wirtschaftsministerium, dass viele Start-ups früh von ausländischen Firmen gekauft werden, statt zu reifen, in Israel Arbeitsplätze zu schaffen und Steuern zu zahlen. „Ich habe mit vielen US-Firmen gearbeitet“, sagt Harel Ram, ein 45-jähriger Gründer, der kürzlich mit seinem Start-up in Be’er Schevas Hightech-Park gezogen ist. „In punkto Kreativität sind israelische Ingenieure führend. Aber die Amerikaner sind besser darin, eine Firma großzumachen. Wenn Sie mich als Entrepreneur fragen, sage ich: Ein Exit ist etwas Gutes. Aber makroökonomisch gesehen ist er eine Bedrohung: Man baut etwas auf, es hat Erfolg – und am Ende verzehren andere die Früchte.“

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